Leseprobe: Irgendwann war nur noch Verzweiflung

Nadja K.

 

Nadja ist eine 39-jährige Frau. Alleinstehend und kinderlos - geschieden seit zehn Jahren. Doch schon lange vorher, eigentlich seit sie 22 war, litt sie – wie sie erzählt – unter chronischen Erschöpfungszuständen, depressiven Verstimmungen und Schwindelattacken. Dennoch war sie in der Lage, ein normales Leben zu führen, zu heiraten, und weiterhin ihrer Arbeit nachzugehen. Aber die Symptome wurden nach und nach schlimmer, und Besuche beim Hausarzt häufiger. Der tippte auf eine psychische Überlastung. Immer wieder. Was lag auch näher?  Er verschrieb Psychopharmaka. Doch Nadjas Zustand wurde nicht besser. Im Gegenteil. Bald ertappte sie sich bei Gedanken an Selbstmord. Mit der Zeit immer öfter. Und sie wurden konkreter und hartnäckiger. Beim Autofahren dachte sie immer häufiger daran, am liebsten mit Vollgas gegen eine Mauer zu fahren. Nachdem sich nicht nur der psychische, sondern auch der körperliche Allgemeinzustand Nadjas zusehends verschlechtert hatte, schickte sie der Hausarzt zu Spezialisten. Fachärzte sollten die Symptome abklären. Doch weder in der internistischen noch in der neurologischen Universitätsklinik konnte man eine Ursache für die körperliche Schwäche finden. Als noch Gelenk- und Muskelschmerzen hinzukamen, folgte eine rheumatologische Untersuchung. Aber auch die brachte kein greifbares Ergebnis. Etwas Organisches jedenfalls war nicht zu finden. Genau das aber schien den ursprünglichen Routine-Verdacht des Hausarztes zu bestätigen: Die Patientin war - anders konnte es ja nun gar nicht mehr sein - psychisch krank. Ein fatales Urteil

 

Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken folgten. Unter dem Einfluss der Psychopharmaka in zunehmender Dosis fühlte sich Nadja immer weniger in der Lage, ihr Leben zu meistern, sah sich in einem Nebel der Verzweiflung versinken. Ihrer Ehe war all das keineswegs förderlich, die Scheidung dann nicht mehr zu umgehen.

Nach den ersten zehn Jahren gab es für diese Frau nur noch den sozialen Rückzug. Das Leiden war zu groß. Sie hatte keine Kraft mehr auch nur für den geringsten Schritt nach vorn. Sogar die Ärzte mied sie jetzt. Nicht ohne Grund. Denn zurückblickend konnte sie den Eindruck nicht loswerden, dass sie von all den vielen Medizinern, die glaubten, ihren Zustand und damit sie selbst beurteilen zu können, nie jemals richtig ernst genommen worden war. Immer wieder hatte man ihr einreden wollen, es mangele ihr lediglich an psychischer Stabilität. Was sie glauben sollte und wollte, wusste sie nicht. Es war nur eine Ahnung: Irgendetwas anderes musste es sein. Aber was?

 

Zehn Jahre nach Bewilligung der Invalidenrente suchte Nadja zum ersten Mal wieder einen Arzt auf. Der tippte nicht auf die Psyche. Der hatte Erfahrung mit Patienten, die an solchen Symptomen litten, weil ihrem Körper das erforderliche Eisen fehlte. Die Laboranalyse bestätigte den Verdacht. Nadja litt an einem Eisendefizit, und dies schon lange, mindestens seit 15 Jahren. Als sie dies erfuhr, brach sie in Tränen aus. Sie war traurig, enttäuscht und wütend ob der Odyssee, die sie hatte erleben müssen. Wirklich müssen?

 

Nadja erhielt Eiseninfusionen und Vitamin B12 (ein Mangel an diesem Vitamin kann wie Eisenmangel Erschöpfungszustände, depressive Verstimmungen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen usw. verursachen). Die erhoffte Besserung trat ein, sichtbar, aber langsam. Der „Boden“ war zu lange schon „ausgetrocknet“, als dass das „frische Grün“ schon nach dem ersten Regenguss hätte rasch wiederkommen können. Doch es war nicht zu spät dafür gewesen. Und sie hatte Geduld.

 

Heute, zwei Jahre nach der ersten Eisenbehandlung, ist Nadja wieder ziemlich „gut drauf“, körperlich wie psychisch. An Selbstmord denkt sie schon lange nicht mehr. Dafür geht sie gelegentlich wieder abends aus. Mit Kolleginnen. Fürs Erste jedenfalls.

 

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